Tage Alter Musik – Programmheft 2023

Mai 2023 die Originale nochmal nachzukomponieren, aber die große Mehrheit begnügte sich anscheinend damit, die Musik zu transponieren, indem man sie ‚wie sie war‘, nur in einer anderen Oktave spielte. Das machte den Vorgang, um genau zu sein, eher zu einem Akt einer Anleihe und weniger zu einer Transkription. Und wie verhält es sich mit Forquerays Art des Spielens? Diese Frage steht im Mittelpunkt unserer Aufnahme. Wie ging er bei der Aufführung einer für die Violine geschriebenen Sonate vor? Inwieweit blieb er dem Originaltext treu? Hat er das Original nach seinem Geschmack und den Eigenheiten der Bassgambe bearbeitet? Die Grenze zwischen Interpretation und Komposition kann, besonders zu dieser Zeit, fließend sein. Wie war seine Herangehensweise an italienische Musik? Wenn man Titon du Tillet4 glauben darf, beherrschte Forqueray den italienischen Stil so vollkommen, dass er sich mit italienischen Musikern in der Aufführung ihrer eigenen Musik messen konnte. Alles deutet zum Beispiel darauf hin, dass er die für Geminiani typischen blumigen Verzierungen kannte, die in einigen seiner eigenen Kompositionen bezeugt sind, z. B. in der Sarabande „La d’Aubonne“. Wir wissen auch, dass er ein ausgezeichneter Improvisator war. Der Ansatz, den ich verfolge, ist zuweilen sehr frei und vor allem an der Gambe orientiert. Das geht so weit, dass ich sogar den dritten Satz der Corelli-Sonate zu einem Solosatz für Gambe in einem an Forqueray angelehnten Stil umgeschrieben habe. Die Transkription war, im Großen und Ganzen betrachtet, eine gängige Praxis, wie auch das Stück für Laute zeigt, das wir für dieses Programm ausgewählt haben: eine Transkription, die De Visée auf Grundlage von Forquerays „La Vénitienne“ angefertigt hat – die ursprüngliche Quelle ist bis heute unbekannt geblieben. Auch das Stück für Cembalo solo ist eine Bearbeitung eines Originals für Gambe von Forqueray mit dem Titel „La Clément“, das zu Ehren eines Cembaloprofessors komponiert wurde. Es ist in einem Stil geschrieben, der eine Komposition für Tasteninstrument imitiert, und wurde von Forquerays Sohn Jean-Baptiste wiederum für das Cembalo umgeschrieben. Damit schließt sich sozusagen der Kreis. Wo es gerade um Autorschaft geht: Wie stehen Sie zur Debatte um die Stücke, die einige dem Sohn und andere dem Vater zuschreiben? Forquerays Pièces de Viole werfen in der Tat eine Reihe von Fragen auf. Sie wurden 1747, zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters, von Jean-Baptiste Forqueray veröffentlicht, aber ihr Stil, der stark an Leclair erinnert, ist so weit fortgeschritten, dass man sich fragen kann, inwieweit der Sohn die Originale seines Vaters überarbeitet hat. Hat er sich wirklich damit begnügt, wie er im Vorwort schreibt, nur den Basso continuo zu ergänzen und eine der Suiten mit drei neuen Sätzen zu vervollständigen, die er sorgfältig mit einemAsterisk versah, um jede Verwechslung zu vermeiden – oder vielleicht, gerade umgekehrt, um jedem Verdacht zuvorzukommen –, oder ist er der eigentliche Autor des gesamten Werks, wie manche behaupten? Verabscheut, beneidet und geschmäht von seinem eigenen Vater – warum sollte ein Sohn ihm, der ihn ins Gefängnis und Exil treiben wollte, einen solchen Tribut zahlen wollen? Wurde JeanBaptiste, eingedenk des Ruhmes seines Vaters, durch geschäftliche Erwägungen genötigt? Warum blieb es bei der einen Veröffentlichung, wenn doch sein Vorwort andeutet, dass weitere Bände folgen würden? und vor allem, warum hat Antoine selbst, obwohl zeitgenössische Quellen seine Produktivität belegen, zu Lebzeiten nie etwas von seinem Werk veröffentlicht? Meiner Meinung nach ist die überzeugendste Theorie, dass es sich um ein Arrangement handelt. Der Sohn überarbeitete die Stücke seines Vaters anhand der ihm vorliegenden Manuskripte oder aus dem Gedächtnis, wobei er sie höchstwahrscheinlich etwas aktualisierte. Zweifellos war es der Sohn, der die Titel auswählte, denn mehrere von ihnen weisen auf Personen hin, die eindeutig zu seinem umfeld gehörten – zum Beispiel „La Marella“, eine Hommage an Giovanni Battista Marella, einen Geiger, mit dem zusammen Jean-Baptiste bekannterweise gespielt hat. Auch hier also stoßen wir wieder auf Theorien der Aneignung und Reinterpretation. Also ein Weg, Gerechtigkeit zu erlangen und sich von einem tyrannischen und missbräuchlichen Vater zu befreien, der diese Musik immer noch zeichnet. Der abscheuliche Charakter von Forqueray dem Älteren steht außer Frage und in Anbetracht der zeitgenössischen schriftlichen Quellen sind die Beweise für seine Grausamkeit überwältigend. Wenn man sich diesen Werken interpretatorisch nähert, wird es schwer, eine neutrale Position einzunehmen. Diese Musik ist so dicht, dass man einige Zeit braucht, um sie zu durchdringen; man kann sie nur mit viel Mühe erfassen, schrittweise, oft Akkord für Akkord, und sie erweckt den Eindruck, sie entstamme einem aufgewühlten Geist. Hinzu kommt eine eher dunkle Textur, die durch die häufige VerTAGE ALTER MuSIK REGEnSBuRG Lucile Boulanger & Pierre Gallon beim Abhören der Forqueray-Aufnahme 1 Pierre-Louis d’Aquin de Château-Lyon, Lettres sur hommes célèbres, Teil 1, Amsterdam, 1752, S. 143. 2 Hubert Le Blanc, Défense de la basse de viole contre les entreprises du violon et les prétentions du violoncelle, Amsterdam, 1740, S. 103–104. 3 Ebd. S. 127. 4 Évrard Titon du Tillet, Le Parnasse français, Paris, 1732, S. 756. 62

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